Die Geburt Christi und die Weihnachtskrippe

Die Menschwerdung Christi, die im Lukasevangelium gemeinsam mit der Anbetung der Hirten, im Matthäusevangelium zusammen mit der Anbetung der Magier überliefert wird, findet sich im Gegensatz zur Passion Jesu bereits früh an den Wänden der Katakomben und auf Sarkophagen dargestellt. Mit Billigung der Kirche zieren im 4. Jahrhundert Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament Kirchenräume und liturgische Objekte. Die eher nüchternen Berichte der kanonischen Texte, die der Kirche als einzige göttlich inspirierte Evangelien gelten, lassen viele Fragen offen. Auf diese bieten die fantasievoll ausgeschmückten Schilderungen der apokryphen Evangelien Antworten. Aus ihnen stammen Ochs und Esel sowie die Weihnachtsgrotte, die regional dem Stall vorgezogen wird.

 

Im 10. Jahrhundert entstehen in unseren nördlichen Breiten liturgische Schauspiele, die dazu beitragen, den Gläubigen die Bedeutung des Evangeliums zu erschließen. Die zunehmende Hinzufügung profaner Details wird dazu führen, dass diese zunächst aus der Liturgie, später vollständig aus dem Kirchenraum verbannt werden. In Folge werden sie auf den Vorplätzen der Kirche dargeboten und zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Künstler des Mittelalters.

 

 Ab dem 13. Jahrhundert führen Hagiographien wie die Legenda Aurea (1261 – 1266) oder die Historia Scholastica von Petrus Comestor zusätzliche Motive ein. Die Stall-Ruine verdrängt die apokryphe Grotte. Konzepte menschlichen Mitfühlens und Mitleidens finden –  angestoßen durch große mittelalterliche Mystiker – Eingang in die Bilderwelt. In seinen Predigten entrüstet sich der Heilige Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153) über die Armseligkeit des Stalles, der Heilige Franziskus von Assisi (1181 – 1226) setzt die Krippe dem Altar gleich. Er ist keineswegs, wie allzu oft behauptet wird, Schöpfer der Krippe. Er verdeutlicht das Weihnachtsgeschehen lediglich durch die Anwesenheit von Ochs und Esel. Zur gleichen Zeit beginnen sich Bildhauerei und Malerei als eigenständige Kunstformen von der Architektur zu lösen, mit der sie zuvor eine unzertrennliche Einheit gebildet hatten. Zwischen 1289 und 1291 führt der toskanische Bildhauer Arnolfo di Cambio in der Kirche Santa Maria Maggiore, die auch Santa Maria ad præsepe (Sankt Marien zur Krippe) genannt wird, eine Darstellung der Anbetung durch die Heiligen Drei Könige in Marmor aus. Er schafft diese für ein Oratorium, das man aus Steinen erbaut hat, die man zuvor aus Bethlehem hergeschafft hatte. Die Darstellung di Cambios stellt die älteste bekannte Krippe dar. Ihre Figuren sind voneinander unabhängig, bleiben jedoch fest mit Bodenfläche und rückwärtiger Mauer verbunden.

 

 Bis dahin hatte man für zweidimensionale Bildwerke unabhängig von ihrer Ausführung als Malerei, Mosaik, Fresko oder Relief den Begriff «Weihnachtsdarstellung» verwendet. Aus der «Weihnachtsdarstellung» wird die «Krippe», als man dazu übergeht, Figuren in dreidimensionale Landschaftsaufbauten zu platzieren. Die Krippe wird in Folge zum Kern einer einzigartigen Frömmigkeitspraxis, die gleichwohl stets am Rande der Liturgie verbleibt. In unterschiedlicher Materialausführung verbreitet sich diese Darstellungsform ab dem 14. Jahrhundert auf italienischem Gebiet.

 

Eine weitere große Seherin, die Heilige Brigitte von Schweden (um 1302 – 1373), beschreibt in ihren  Revelaciones die Niederkunft der Heiligen Jungfrau. Fortan wird man Maria kniend und mit gefalteten Händen darstellen. Das Kindbett, das in der Ikonen-Kunst bis heute fortlebt, wandelt sich zur Anbetung – es ist der Bildtyp, der sich im Abendland durchsetzen wird. Möglicherweise befördert durch die Mysterienspiele, gewinnt ein weiteres Sujet, die Verkündigung an die Hirten, an Popularität. Die letzte, bemerkenswerte ikonografische Entwicklung ist die Darstellung der Heiligen Drei Könige als Vertreter der im Mittelalter bekannten Kontinente Europa, Asien und Afrika. Seit dem 10. Jahrhundert tragen sie königliche Insignien und Kronen.

 

Die Mysterienspiele beeinflussen auch die Tradition des Kindleinwiegens in den Klöstern. Diese verbindet Bildhauerei mit Lied- und Wiegenbräuchen. Das «Musée des Arts anciens du Namurois» und das Museum Schnütgen in Köln verwahren besonders anschauliche Beispiele für teilweise in kostbaren Materialien ausgeführte Christkindwiegen. In Köln ist nachweisbar, dass diese Tradition bereits Mitte des 16. Jahrhunderts auch in Privathäusern gepflegt wird. Die Verbreitung der Krippe schreitet langsam voran. Die erste bekannte Krippe in Frankreich ist die von Chaource en Champagne, die auf 1540 datiert wird. Das Konzil von Trient fasst 1563 neue Beschlüsse für religiöse Kunst: Eine größere Verbreitung von Bildwerken soll mit einer Rückkehr zu erbaulicheren Schöpfungen einhergehen, die eine stärkere Übereinstimmung mit der Überlieferung der Evangelien aufweisen. Diese Beschlüsse werden kurz darauf in der Schrift De Picturis et Imaginibus Sacris des Theologen Molanus aus Löwen (1570) bekräftigt und in konkrete Anweisungen für Künstler übersetzt. Sie beeinflussen die sich rasch entwickelnde Barockkunst, die eine Gegenposition zur Askese protestantischer Kirchenräume einnehmen wird. Der neugegründete Jesuitenorden propagiert seinerseits die Prinzipien des Barocks in Architektur, Lehre und Katechese. In jeder ihrer Kirchen fördert die Gesellschaft Jesu die Krippe, die in Folge durch eine stetig wachsende Anzahl von Nebenfiguren erweitert wird. In Köln, eine der bedeutendsten und frühesten jesuitischen Niederlassungen unserer Region, ist schon für 1568/69 eine Krippe in der Jesuitenkirche belegt. Im Laufe der kommenden Jahrzehnte verbreitet sich die Krippe auch in der Aristokratie. Der Jesuit Philippe de Berlaymont aus Huy (1576 – 1637) ist 1618 der erste Autor, der den Krippenbrauch beschreibt. Zwei Ausgaben des Werkes erscheinen im Folgejahr ebenfalls in Köln. Der älteste bekannte Text über die Krippe stammt also aus unseren Regionen! 

 

 Das 18. Jahrhundert bringt die Aufklärung hervor. Der Rationalismus und neue philosophische Ideen führen zu einem gewissen Desinteresse seitens der Geistlichkeit. Die Krippe wird sogar aus den Kirchen bestimmter Regionen verbannt. Eine Bewertung der Auswirkung des Verbotes von 1782 auf die alten Österreichischen Niederlande durch Joseph II. ist nicht einfach. Doch als Konsequenz demokratisiert sich die Krippe auch durch den Einsatz innovativer Techniken, die eine kostengünstigere Produktion erlauben, und etabliert sich zunehmend in Privathaushalten.

 

In vielen Regionen mit alter Krippentradition wie Neapel, Tirol, die Iberischen Halbinsel oder die Provence wird die Geburt Christi in familiärem Umfeld dargestellt. Die Krippe löst sich vom gemeinsamen Erbe und erlebt das Aufkommen regionaler Stile.

  

Das 19. Jahrhundert ermöglicht schließlich eine weitere Steigerung der Produktion. Gipskünstler aus der Toskana, die zuvor auf Wanderschaft gearbeitet hatten, lassen sich in den großen Städten unseres Gebietes nieder, wo sie Kirchen und Privathäuser mit Gipsfiguren überfluten. Ihre Entwürfe variieren kaum, da sie oftmals präzisen theologischen und symbolischen Vorgaben entsprechen. Sie verbreiten sich bisweilen auch in der Kolonie, dem Kongo. Mitte des 20. Jahrhunderts werden diese Figuren, die sich zuvor der einhelligen Zustimmung der Geistlichkeit erfreut hatten, nicht weiterentwickelt, ihre Produktion eingestellt.

 

 Porzellanfabrikanten aus Andenne im Tal der Maas schaffen gegen 1860 profane und religiöse Darstellungen, die sich in jeder Hinsicht mit dem Porzellan aus Sèvres vergleichen lassen können. Diese etwas blassen, farbig gefassten, bisweilen jedoch durchaus eindrücklichen Erzeugnisse gewinnen in Folge an Beliebtheit. Die letzten Ateliers schließen gegen 1880. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges werden aus Sachsen und Bayern Figuren aus Pappmaché oder Frittenporzellan in unsere Gegend exportiert. Die ersten «Fèves» (Bohnen) für die Dreikönigskuchen stammen aus solchen Herstellungen.

 

Der Vollständigkeit halber soll auf die Puppentheater hingewiesen werden, die in Lüttich, Mons und Namur existiert haben. Diese Tradition ist heute noch in Lüttich lebendig, wo mehrere Puppentheater zu Weihnachten «Li Nêssance» (Die Christgeburt) spielen. Das «Musée de Verviers» zeigt jedes Jahr das «Bethléem». Eine Folge von Bildern aus der Kindheit Jesu wird durch Kinder in Bewegung versetzt, die unter den Aufbauten verborgen sind. Das heutige «Bethléem» stammt aus dem Jahre 1860, seine Ursprünge reichen jedoch viel weiter zurück. In Brüssel zeigt das Théâtre de Toone die «Nativité» in einer Fassung von 1929, in der Michel de Ghelderode volkstümliche Vorbilder verarbeitet.

 

Beeinflusst durch verschiedene ästhetische Strömungen, sucht die religiöse Kunst neue Ausdrucksformen – mit bisweilen überraschenden Ergebnissen. Die Illustratorin Jeanne Hebbelynck (1891 – 1959) aus Gent wird zur Vorreiterin, indem sie eine höchst individuelle Bildsprache entwickelt, um Glaubensinhalte den Allerkleinsten zu vermitteln. Ihre Illustrationen werden zu Vorbildern für Krippen, die von Teco in der Lütticher Region und der Maison Saint-Augustin in Gent hergestellt werden. Ihr Stil beeinflusst die Schwestern S. und J. Boland sowie Jeanne Gouppy. In der Region Brüssel geben H. Froustey und P.A.B. Gipskrippen mit beruhigter Linienführung heraus. Die Spielzeugfabriken Clairon et Durso aus Lüttich sowie Nazaire Beeusaert aus Deinze schaffen Krippen, die heute sehr gefragt sind.

 

 Kunsthandwerker aus dem Kongo, Ruanda und Burundi stellen interessante Krippen im Dialog abendländischer und afrikanischer Einflüsse her. Die Bandbreite der verwendeten Materialien ist außerordentlich groß: Exotische Hölzer, Elfenbein, Ton, Malachit, Bananenblätter, getriebenes Kupfer. Das Zweite Vatikanische Konzil ermutigt zur Vereinfachung der Liturgie, führt aber auch zu „Säuberungsaktionen“ in den Kirchen, die durch den „Figurenwahn“ des vorangegangenen Jahrhunderts vollgestopft worden waren. Ein Großteil der Kirchenkrippen wird Opfer tiefgreifender Veränderungen. Die farbigen Fassungen verschwinden zugunsten einheitlicher Färbungen, die Anzahl der Figuren wird verringert, das Dekor reduziert oder gänzlich abgeschafft. In den 1980er Jahren werden Krippen bisweilen thematisch ausgerichtet und von Textbotschaften oder Fotos begleitet. In den letzten 20 Jahren hat sich diese Tendenz erfreulicherweise umgekehrt. Seit den 1970er Jahren treten wallonische «Santons» in Erscheinung, die durch provenzalische Krippen inspiriert wurden. Der Verein der Belgischen Krippenfreunde wurde 1991 gegründet. Seit 25 Jahren wirkt er für die Verbreitung und die Erneuerung der Krippe durch Ausstellungen, Kurse und den Einsatz von Techniken, die durch die herausragendsten europäischen Vorbilder angeregt wurden.

 

 

Michel VINCENT

 

 

              Eine Szene aus „Li Nêssance“ mit alten Marionetten, Théâtre à Denis, Lüttich.

 

 

 Santonsfiguren in Ardenner Stil

 

 

Porzelan Ardenne um 1860

 

 

 

Krippe aus Gips, 30cm, Werkstatt Togneri, um 1920